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CHURCH OF FEAR'S »3. Int. Pfahlsitzen« in Frankfurt a.M.
Frankfurt-Pressespiegel

Die Kirche lebt

Schlingensiefs "Church of Fear" an der Frankfurter Hauptwache: Besser haben soziale Plastiken nie funktioniert.

Von Florian Malzacher


"Wir haben euch mit unserem Horn zusammengeblasen. Wir sind mit Lärmen gekommen, weil ihr den leisen Rufen noch nicht folgt, weil ihr erst lebendig werden müsst... Seht, wir kommen nicht im Zeichen einer Partei, wir stehen nicht rechts noch links, sondern wir stehen mit beiden Füßen auf der Erde und tragen den Kopf in den Himmel." Es war in den Monaten nach dem 1. Weltkrieg, die Orientierungslosigkeit war groß. Während unklar war, wie die Geschichte weiter gehen würde, zogen merkwürdige Gruppen - Sekten, Laienspielscharen, Lebensreformer, wirre Vögel und klare Denker - durchs Land. Eine dieser Gruppen nannte sich "Neue Schar" und wurde geführt von einem charismatischen jungen Mann namens Muck Lamberty. Wie eine wiedertäuferische Gemeinde aus dem Mittelalter zog die "Neue Schar" von Dorf zu Dorf und sorgte für Aufregung, Diskussions-stoff, aber auch für ausgiebige Feiern. Der Legende nach sollen Lamberty Jugendliche nachgefolgt sein, wie dem Rattenfänger von Hameln.

Kriege, fertige und unfertige, gibt es auch heute genug, Orientierungs-losigkeit sowieso. Und es gibt eine meist diffuse Sehnsucht nach Anhalts-punkten: Viele, gerade jüngere experimentelle Künstler, die jahrelang mit den Lehren von dezentriertem Subjekt und Repräsentationskrise die faule Selbstgewissheit des Kulturbetriebs erschüttert haben, prüfen nun, da sie vom Mainstream überaffirmiert wurden, behutsam was mit Narration, Line-arität, Kausalität und Ethik noch anzufangen ist.

Einer aber geht gleich in die Vollen: Christoph Schlingensief, der leiden-schaftliche Anti-Ironiker, schnüffelt nicht erst lang um Moral und Religion herum, er nimmt sich, was er brauchen kann. Nicht das Drumherum oder Nebenaspekte, sondern den Kern. Und der heißt: "Habt Angst! Fürchtet Euch" - als kirchliches Zentralmotto seit jeher vor allem auf Machterhalt gerichtet, aber auch psychotherapeutischer Therapieprozess: Sich den eigenen Ängsten stellen und sie beherrschen. Vor allem ist es für Schlin-gensief aber eine politische, gesellschaftliche Forderung: Das Monopol der Angst zu brechen, den religiösen und politischen Institutionen und Be-wegungen den Terror zu entreißen, um ihn zu demokratisieren. "Habt Angst!" ist die radikale, konsequente und wesentlich tiefer gehende Form des Slogans "Wähle dich selbst" mit dem Schlingensiefs Partei "Chance 2000" vor fünf Jahren zur Bundestagswahl antrat. Von Köln aus ist Schlin-gensiefs neue Schar nun bis hin zum Frankfurter Bockenheimer Depot ge-wandert - zu einem kuscheligen, eigenen Kirchentag: Keine Show, son-dern ein Beisammensein zelebrierte Schlingensief, mehr Kirchenfreizeitleiter als Schamane: gemeinsam Gemüseschnipseln, Kochen, Reden, da und dort eine kleine Predigt, eine öffentliche Beichte, ein paar Videos von anderen Religionen. Zwischendrin wurde gecastet, bis aus über dreißig Bewerbern sieben ausgesucht wurden: "Arbeits-, Obdach- und/oder Hoffnungslose", die sich "ihren Ängsten stellen wollen" und nun seit Montag früh bis kom-menden Samstagnachmittag auf zweieinhalb Meter hohen Pfählen an der zentral gelegenen Hauptwache hocken - nach der Biennale in Venedig und einem Ausflug in Katmandu das dritte Pfahlsitzen der "Church".

Showeinlagen, aber keine Show: Während der erste Tag im Bockenheimer Depot vor allem von aufgestauten Erwartungshaltungen geprägt war, Zuschauer, Journalisten und nicht zuletzt das veranstaltende Schauspiel Frankfurt eine Sause erhofften, zeigt sich die eigentliche Substanz des Projektes da, wo es sich entspannt und verselbstständigt: An der Frank-furter Hauptwache lagert eine Gruppe Punks um "ihren" Pfahlsitzer, kom-men Banker um zu spotten, Christen um sich zu streiten, Kulturszene um zu belächeln, Antifa um nach Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zu fra-gen. Aber es kommen vor allem tatsächlich jene Außenseiter, von denen Schlingensief immer spricht und von denen sich in Frankfurt in dieser Ecke jede Menge tummeln. Kommen, reden, tragen vor, das Mikro steht jedem offen: "Durch Mitleid wissend", dieser Satz über Parsifal, den Schlingensief gerne zitiert, trifft - so pathetisch er auch sei.

So ist "Church of Fear" vor allem eine der bestfunktionierenden sozialen Plastiken, die je aus einem Kunstkontext heraus entstanden sind: "CoF"-Gemeinden haben sich in verschiedenen Städten gegründet - was sie dort tun, was sie unter "Angst" verstehen, das ist ihre Sache, von Schlingen-sief kommt keine Spielanleitung. Und nachts, wenn er gegangen ist, die Pfahlhocker aber unermüdlich hocken, diskutieren türkische Jugendliche mit kahlgeschorenen Punks. Etwas Abseits steht eine Frau meditierend vor einem der ausgehängten Texte, ein Betrunkener schimpft mit sich selbst und ein heimkehrendes Technokid lässt sich die ganze Aktion von grund-auf erklären. Und manchmal ruft jemand die Polizei, die dann, nicht unin-teressiert, das Treiben betrachtet.

Eine solche eigene Kraft hatte Muck Lambertys Bewegung nicht; letztlich war er ein armer Vogel, der über den eigenen Tellerrand nicht hinaus-schauen konnte - seine "Neue Schar" war schnell wieder eingegangen. Die "Church of Fear" würde Schlingensief irgendwann am liebsten in Form ihrer Reliquien mit einer Rakete ins All schicken. Oder, wahrscheinlicher, in seine Bayreuther Parsifal-Inszenierung münden lassen. Am schönsten aber wäre, wenn er ihr Ende gar nicht mehr bestimmen könnte, weil sie anderen gehört.

Hauptwache Frankfurt, bis Samstag.

Text: Frankfurter Rundschau vom 18.09.2003