Erlösung
im Kehrichtkasten
Notizen zum Christentum: Christoph Schlingensief bringt die "Church
of Fear" nach Frankfurt
Zu den Märchen Hans-Christian Andersens, über welche man
Tränen vergießen möchte, gehört die kleine Geschichte
"Das Liebespaar". Ein blecherner Kreisel und ein Bällchen
lagen im Kasten zusammen mit anderem Spielzeug, und da sagte der Kreisel
zum Bällchen: "Wollen wir nicht Brautleute sein, da wir
doch in einem Kasten zusammenliegen?" Aber das Bällchen,
das einen Kork im Leibe trug und von Saffian genäht war, wollte
auf so etwas nicht antworten. Das Märchen endet, wie es anfing:
mit dem Blick aufs Falsche. Kreisel und Bällchen treffen sich
nach fünf Jahren wieder - im Kehrichtkasten, der Kreisel inzwischen
vergoldet, das Bällchen vom Regen aufgeweicht. Während der
goldene Kreisel, von der Dienstmagd aus dem Kehricht gerettet, im
Hause wieder zu großer Ehre kam, hörte man vom Bällchen
nichts mehr. Und der Kreisel, der sich fünf Jahre lang nach dem
Bällchen gesehnt hatte, sprach nun nicht mehr von seiner alten
Liebe. Die vergehe, wenn die Liebste fünf Jahre lang in einer
Wasserrinne gelegen hat und aufgeweicht ist, schreibt Andersen zum
Schluß. Ja, man erkenne sie nicht wieder, wenn man ihr im Kehrichtkasten
begegnet.
Die
Geschichte fällt einem ein, wenn man dieser Tage an der Frankfurter
Hauptwache über den Parcours schlendert, auf dem Christoph
Schlingensief mit seiner "Church of Fear" gastiert und
das Märchen von den sieben Säulenheiligen aufführt,
die da auf überdachten Pfählen um die Wette dauersitzen.
Es gibt ein Preisgeld für den Gewinner. Dreitausend Euro anstelle
des himmlischen Lorbeers, den die stylitischen Säulenheiligen
einst erwarteten für ihr Stehen vor Gott. Alle drei Stunden
dürfen die Pfahlsitzer an der Hauptwache - per Casting ausgewählte,
ihre Angst lauthals herausrufende Angsthasen aus den Randgruppen
unserer Gesellschaft - eine Viertelstunde lang austreten. Die Gemüsesuppe
für alle firmiert unter dem Namen "Abendmahl"; ein
Altar mit Hase ist zu sehen; eine Reliquienbox mit Sägemehl;
die Prozession, in der sich die "Church of Fear" bewegt,
heißt "Schreitender Leib"; die Kirchenmitglieder
werben mit Formularen Jünger an; sie tragen T-Shirts, auf denen
steht: "Ich will heilig werden". "Habt Angst, fürchtet
euch", ist ihre messianische Botschaft. Ein "Recht auf
Terror" wird verkündet.
So
wie Andersen die Liebe in den Kehricht zieht, tut es Schlingensief
mit dem Glauben. Er will wissen, was man vom Christentum noch wiedererkennt,
wenn man ihm im Kehrichtkasten begegnet. Wird da noch Glaube auf
der Erde sein, wenn sein irdisches Unterfutter sichtbar wird? Wenn
die historisch-kritische Methode, die Schlingensief exerziert, die
Säulenheiligen als die komischen Leute zeigt, die sie waren?
Wenn die Hoffnung auf den Himmel als ein aufwendiges sublimatorisches
Projekt sichtbar wird, dessen Anstrengung man auch für ein
paar Euro mehr auf sich nimmt? Wenn das Sakrament in seiner Torheit
erscheint, Brot (wie Hase oder Gemüsesuppe) für Gott zu
halten, für seinen schreitenden Leib? Und schließlich:
Wird da noch Glaube auf der Erde sein, wenn man die Heiligkeit als
Programm unter Programmen entdeckt, als ein Unwort, wo sie zum Wort
wird, eine Ideosynkrasie für T-Shirts unter anderen Ideosynkrasien
für T-Shirts, wahlweise Tugend oder Terror oder Tugendterror
produzierend?
Schlingensief
macht es wie Andersen und zieht in seinem Märchen alles in
die Regenrinne, vulgo: Gosse. Sie ist die Rinne der Erkenntnis.
In ihr zeigt sich, was bleibt: Glaube, Hoffnung, Liebe - diese drei.
Wenn alles gutgeht. Und wenn es nicht gutgeht, läßt man
die Dinge auf sich beruhen, spricht man im Kehricht nicht mehr von
seiner alten Liebe, nach der Hauptwache nicht mehr von seinem alten
Glauben. Dann ist alles aufgeweicht, und man weiß immerhin
dies: Man hatte gar nicht geliebt, als man meinte, zu lieben; gar
nicht geglaubt, als man meinte, zu glauben. Es waren nur Aberglaube
und Aberliebe. Man hatte all die Jahre auf das Falsche geblickt.
Auf Kork und Saffian, auf Brot und Wein, auf Askese und Pietät
- auf Hase, Pfahl und Gemüsesuppe, diese drei.
Und
auf die Angst. Schlingensief macht sie mit Recht zum zentralen Objekt
seiner Travestie, er beweist damit, daß er in der real existierenden
Religionspädagogik zu Hause ist. Denn die schreibt in immer
neuen Variationen das Ende der Angst aus. Es ist ihre Art, den Glauben
alltagstauglich zu machen, indem sie sagt: Wenn Sie sich fürchten,
dann gehen Sie zur Ayurveda-Massage, nehmen Sie Antidepressiva oder
finden Sie einen Menschen fürs Leben! Und wenn alles nichts
hilft, dann kommen Sie ruhig zu uns, zu uns Glaubenden, und Ihre
Furcht wird Ihnen genommen immerdar! Der Märchenerzähler
Schlingensief macht Schluß mit solchem Theologen-Mumpitz.
Mit seinem "Fürchtet euch!" holt er das "Fürchtet
euch nicht!" des Herrn Jesus Christus aus der Gosse der Kalendersprüche
und Lebensweisheiten und Esoteriktips. Im Kehrichtkasten der "Church
of Fear" wird klar: Erlösung ist keine psychologische
Kategorie. Den Liebenden und Glaubenden vergeht keine Angst, keine
einzige. Bis Sonntag können wir uns davon noch an der Frankfurter
Hauptwache überzeugen. Danach wieder in uns und auf dem Erdenrund.
CHRISTIAN
GEYER
Text:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.09.2003, Nr. 217 / Seite 35
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